Wir pfeifen auf den Rotstift und machen eine raubpartyreise

Wie wäre es, 

wenn man die Freude am Schreiben in Kindern wecken könnte. Wenn die Kinder entdecken würden, dass schreiben Spaß machen kann. Wenn sie merken, dass sie ihrer Fantasie freien Lauf lassen können. Wenn IHRE Ideen gehört, aufge­schrieben und weiter­ge­sponnen werden – egal wie skurril sie sind. Wenn sie in Berührung mit Menschen kommen, die das beruflich machen und sie von deren Kreati­vität angesteckt würden. Wie wäre es, wenn das alles in der SCHULE passieren könnte!

Klopapier, Post-Its und Sockenleitung

Einen Schul­haus­roman zu schreiben steht nicht auf dem Lehrplan. Sollte es aber vielleicht!? Nach sechs gemein­samen Doppel­stunden haben es drei dritte Klassen der MS Rheindorf, begleitet von den Autor*innen Muhammet Ali Baş, Daniela Egger und Jürgen-Thomas Ernst, geschafft, im Kollektiv jeweils einen Roman zu schreiben. 

Jede Klasse durften wir einmal besuchen, durften dieses besondere Projekt hautnah miter­leben, in die Intimität der Ideen­findung und des Schreib­pro­zesses eintauchen. Ideen hören, die wieder verworfen wurden – vom Ideen­geber selbst oder von einem Klassen­ka­me­raden. Bezeugen, wie erste Charaktere für die Geschichte im Dabeisein vieler Geburts­helfer das Licht der Welt erblickten. Was es mit Klopapier, Post-Ist und Socken­leitung auf sich hat kann in diesen kurzen Einblicken in den Schreib­prozess nachge­lesen werden:

Klopapier: https://old.w‑ort.at/2019/04/klopapier-im-klassenzimmer/

Socken­leitung: https://old.w‑ort.at/2019/05/sockenleitung/

Post-its: https://old.w‑ort.at/2019/04/ein-schwank-aus-der-3c/

Mit Eis und Roman in der Hand

Während der Roman lekto­riert und gedruckt wurde, berei­teten sich die Schüler*innen mit ihren Autor*innen in einer weiteren Doppel­stunde auf die Lesung vor. Die meisten hatten noch nie in ein Mikrofon oder vor einem Publikum gesprochen. Eine Lehrerin befürchtete, dass in ihrer Klasse niemand lesen wolle. Nach der Doppel­stunde mit Ali war klar: ALLE wollen lesen. Und so wurde dies ermög­licht, eine Insze­nierung einstu­diert, bei der jede und jeder zu Wort kam. Die weißen Blätter mit den ausge­druckten, vorzu­le­senden Passagen dienten als Sicht­schutz, hinter dem sich die Schüler*innen immer wieder versteckten und die zwei Mikrofone gekonnt hin und her reichten. Eine minütige Pause, um das im Roman so oft erwähnte Eis zu schlecken, verführte das Publikum zur Neugier und zu Gelächter. Das Eis wollte fertig gegessen werden, die Schüler*innen ließen sich nicht aus dem Konzept bringen. Als auch der letzte fertig war, ging es mit der Lesung weiter.

Am Nachmittag wurde vor Ort geprobt – eher chaotisch, wie es sich für eine General­probe gehört. Als sich der imaginäre Vorhang um 18 Uhr vor der ausver­kauften Halle des Gutshof Heidensand hob und die Bühne den Jugend­lichen gehörte, klappte alles. Der Gutshof Heidensand ist ein landwirt­schaft­licher Ort mit roman­ti­schem Flair, an dem ein Eissalon, eine Palme auf einer Südsee­insel und ein Opa im Ohren­sessel nicht fehl am Platz schienen. So unter­schiedlich wie die Romane waren auch die Lesungen.

Den Kindern etwas mit auf den Weg geben indem man neue Pfade geht

Nicht nur die Charaktere in „Wir wollten doch nur um die Welt reisen“ betraten unbekannte Wege. Auch die Lehre­rinnen, die bei diesem Projekt mitge­macht haben, verließen den vertrauten Pfad des Lehrplans und durften live miter­leben, was entstehen kann. Was man in einem Lehrplan nicht findet sind die berüh­renden Neben­ef­fekte, die ein solches Projekt mit sich bringt. Es geht schließlich nicht wirklich um das Endre­sultat, den Roman, sondern um den Weg dorthin. Es geht darum, die eigene Sprache zu finden, sich in Worten ausdrücken zu lernen, zu verstehen, dass schreiben Spaß machen kann und dass es Menschen gibt, die an dieser von einem selbst verfassten Geschichte auch wirklich inter­es­siert sind. Einem zuhören. Das Buch kaufen. In der Zeitung darüber schreiben.

Ein selbst­kri­ti­scher Mitschüler mit wenig Glauben an sein eigenes Können meldete sich plötzlich freiwillig, um eine Textpassage zu schreiben. Die rumänische Schülerin, die zu Beginn des Projektes erst seit zwei Wochen an der Schule war und daher kaum ein Wort Deutsch sprach, wurde vom ungari­schen Klassen­ka­me­raden und dessen Mutter unter­stützt und ihre Textpassage auf rumänisch in den Roman einge­bunden. Durch dieses Projekt wurde die Unter­teilung einer der Klassen in zwei „Gangs“ beleuchtet. In ihrem Jugend-Alltag sind sie die Kannax und die Zweisteins und dies haben sie im Roman ausgelebt. Unter dem Strich und vor allem den Lehrer*innen gegenüber stehen sie jedoch klar als EINE Klasse da.

Und was kommt jetzt?

Am Tag der Lesung wurden Ideen über die Weiter­führung der Geschichten, über einen zweiten Teil, oder gar eine Verfilmung gesponnen. Auf die Frage, ob Mathe eher “Männer­sache” und schreiben eher was für Mädchen sein kam von Noah und Leon beim Radio­in­terview ein eindeu­tiges NEIN! Valentina schreibt seit diesem Projekt zu Hause Kurzge­schichten, Lena verfasste als Teil ihrer Schul­arbeit folgende Stellungnahme:

Schreib­ver­wei­gerer, stille Mäuschen und Vielfalt

Ein Sprechchor. Eine „peinliche Eis-Schleck-Pause“. Eine Schülerin, die durch einen Spontanap­plaus aus ihrem Lachkrampf zurück auf die Bühne geholt wird. 55 Schüler*innen stehen mit Recht stolz auf der Bühne und präsen­tieren ihre Romane. Sie halten ein Buch in ihren Händen, von dem sie behaupten können, dass sie selbst es geschrieben haben. Schreib­ver­wei­gerer schreiben, stille Mäuschen sprechen im Radio, das teils gebro­chene Deutsch wirkt auf der Bühne charmant und passt zur Vielfalt an der Schule und der Charaktere des Romans.

So kann Schule sein, wenn ein Direktor und drei Lehre­rinnen ihre Rotstifte in ihren Feder­schachteln lassen und sagen: da machen wir mit! Ein großes Danke­schön an alle Invol­vierten für das Vertrauen und den Mut!

Und sonst so?