Geschichtenschreiber:innen und ‑erzähler:innen
IMG_6360

Jürgen hat eine Zauberbox mitge­bracht. Eine Zauberbox gefüllt mit Wörtern zum Thema Heimat, dem Jahres­thema der writers:class an der MS Kirchdorf. Jede:r sollte drei Zettel ziehen und damit eine Geschichte schreiben. Über Heimweh. Wer denn schon einmal Heimweh gehabt hätte, fragt Jürgen in die Runde. Einige Jungs verneinen. „Noch nie? Wirklich, wirklich noch nie?“, fragt Jürgen nach. Die Jungs verneinen wieder. Ob sie coole Teenager sein wollen oder ob es wirklich wahr ist, ist irrelevant. Das Thema steht und fordert sie heraus.

Einer der coolen Jungs zieht seine drei Zettel und sagt: „Meine Zettel, mein Problem.“ Er schreibt ein bisschen, quatscht viel, kommen­tiert viel. Ob eine Geschichte entstanden ist, ist schwer zu sagen. Erst als es zum Vorlesen kommt ist eines klar: ganz egal, was auf seinem Blatt steht, der junge Mann ist ein talen­tierter Geschich­ten­er­zähler. Er schaut hin und wieder auf sein Blatt, liest aber eindeutig nicht vor. Er performt. Und wie! Dann nimmt er doch eines der Blätter in seiner Hand und hebt es hoch, damit es die Klasse sehen kann. Darauf eine Illus­tration, die die das Dilemma, in dem sich die Flugha­fen­kon­trolle in seiner Geschichte befindet, in wenigen Strichen auf den Punkt bringt. Die genauen Details, die er über Flugzeiten, Flughäfen, Lande­bahnen erläutert hatte, in einer Zeichnung.

 

Während der junge Mann erzählt, hört Jürgen zu. Passt auf. Fragt etwas über ein kleines Detail. Der Geschich­ten­er­zähler antwortet kurz, lässt sich aber in seinem Erzähl­rhythmus nicht stören. Zehn Minuten lang erzählt er. Zehn Minuten ist die Klasse so aufmerksam, wie in den letzten zwei Stunden nicht. Zehn ganze Minuten. Es sind seine zehn Minuten. Und die zeigen genau das, was die writers:class kann: Kindern und Jugend­lichen helfen, ihre Stimme zu finden – ob beim Schreiben oder beim Erzählen.

Auch Elena liest vor. Elena, die vorerst Erzähl­bedarf, keinen Schreib­bedarf zu haben scheint. Denn zuerst bringt sie keine Geschichte aufs Papier, sondern muss ein Vorkommnis vom Weg zur Toilette genau­estens erläutern und mit vergan­genen Vorkomm­nissen ergänzen. Mit dem Schreiben beginnen, das kann sie im Moment nicht. Mit ein paar unter­stüt­zenden Fragen und der helfenden Hand ihrer Mitschü­lerin, die sich als ihre Sekre­tärin zur Verfügung stellt, findet sie ihre Worte doch. Und dann performt sie diese beim Vorlesen. Es wird applau­diert und Elena will schon zurück an ihren Platz. Jürgen stoppt sie. „Cringe?“ Was heißt das. Die Schüler:innen erklären ihm, dass es „peinlich, komisch“ bedeute. „Das Wort höre ich zum ersten Mal in meinem Leben“, sagt er. Ein vielstim­miges „WAAAS?“ geht durch die Klasse. Und so erwei­tertn die Schüler:innen den Wortschatz von Jürgen – nicht nur umgekehrt.

 

Ich wusste es nicht, bis ich diese Sätze las:„Es war Pause und andere Kinder haben fengie gespielt.“ und „Ich vermaß meine ganze Familie.“ Ich wusste es nicht, bis ich die Klasse verließ. Nun weiß ich es: Ich hatte Heimweh. Heute durfte ich es abstreifen. In der writers:class.

Die writers:class an der MS Kirchdorf Lustenau ist in ihrem ersten Jahr und wird vom Autor Jürgen Thomas Ernst begleitet.  Das Projekt ist eine Koope­ration mit unserem wunder­baren Partner, dem Litera­turhaus Vorarlberg, und wird vom OEAD als culture connected Projekt und von der Markt­ge­meinde Lustenau finanziert.

Und sonst so?